Wenn ich schon jetzt ein Unwort des Jahres 2020 nominieren sollte, wäre dies nach heutigem Stand der Begriff „Systemrelevanz“.
Als „systemrelevant“ gelten laut Wikipedia „… Unternehmen oder Berufe … , die eine derart bedeutende volkswirtschaftliche oder infrastrukturelle Rolle in einem Staat spielen, dass ihre Insolvenz nicht hingenommen werden kann oder ihre Dienstleistung besonders geschützt werden muss.“
Schon die Schlagworte „Unternehmen“, „Volkswirtschaft“ und „Insolvenz“ zeigen, welcher Maßstab hier angelegt und durch welche rein marktwirtschaftliche Brille dabei geschaut wird.
In der Aufzählung der systemrelevanten Berufsgruppen – ja, die gibt es – sucht man bspw. Lehrer*innen, Erzieher*innen, Sozialarbeiter*innen, Therapeut*innen, Künstler*innen, Kreative und viele viele andere vergeblich.
Ist „nicht systemrelevant“ gleichbedeutend mit „unnötig“ oder „verzichtbar“?
Und welche Relevanz haben Familien, Alleinerziehende, Kinder, Senior*innen, Geflüchtete? Sind unsere Umwelt und das Klima und die Menschen, die sich dafür beruflich und ehrenamtlich einsetzen etwa nicht systemrelevant? Was sagt die Definition und die Priorisierung rein wirtschaftlicher Interessen in der aktuellen Krise über uns als Gesellschaft, unsere Politik, unsere Werte und unsere Erwartungen an die Zukunft aus? Ist „nicht systemrelevant“ gleichbedeutend mit „unnötig“ oder „verzichtbar“?
Systeme, und gerade gesellschaftliche, zeichnen sich dadurch aus, dass sie aus verschiedenen Komponenten bestehen, die zueinander in (komplexen) Beziehungen stehen, einander beeinflussen und so ein Ganzes ergeben. Die Auswirkungen, die sich durch den Wegfall eines Teils des Systems ergeben können, und sei es möglicherweise noch so klein und scheinbar unbedeutend, sind oftmals nicht vorhersehbar. Der viel zitierte „Schmetterlingseffekt“ führt anschaulich vor Augen, wie selbst kleinste systemische Veränderungen zu langfristig unvorhersehbaren Auswirkungen führen können.
Was passiert also perspektivisch mit einem System, dessen Kinder wochenlang keine Schulen und Kindertagesstätten besuchen konnten und dessen ältere Menschen sich als „Risikogruppe“ nur ängstlich mit dem Corona-Alltag arrangieren können? Dessen Familien ungeahnten Belastungen ausgesetzt sind, dessen Kulturlandschaft komplett zusammengebrochen ist und in dessen öffentlicher Debatte die Klimakrise und die Hilfe für Geflüchtete nur noch Randnotizen sind?
Lasst uns daher statt über Systemrelevanz über Werte reden!
Lasst uns daher statt über Systemrelevanz über Werte reden! Und diese Werte dürfen nicht dieselben sein wie die, die zum Entstehen dieser Krise maßgeblich beigetragen haben, wie ein enthemmter Kapitalismus, eine ausbeuterische Globalisierung und das Fortschreiten der Klimakrise!
Es ist daher dringend an der Zeit, eine Debatte darüber zu führen, welches System wir als Gesellschaft wirklich wollen und welche Werte uns, gerade im Angesicht dieser Krise, als wichtig, als erhaltenswert und dauerhaft, ja, als „relevant“ erscheinen.